19.06.2024
Tresides Thesen für das zweite Halbjahr 2024 - Meistens kommt es anders, wenn man denkt -
Verunsicherungen durch die anstehenden Parlaments-Neuwahlen in Frankreich einerseits und Euphorie durch die anhaltende Kursrallye der hochkapitalisierten KI-Profiteure in den USA andererseits haben zu einer erheblichen Ausweitung der KGV-Diskrepanz zwischen Aktien aus den USA und Europa geführt. Während der Abschlag europäischer Aktien lange in einer Bandbreite zwischen 5% und 25% pendelte, hat er sich aktuell auf über 35% erhöht.
Der Bewertungsaufschlag von amerikanischen relativ zu europäischen Aktien kommt im Allgemeinen nicht von ungefähr, sondern ist auf eine Reihe struktureller Gründe zurückzuführen. Nennenswert sind hierbei unter anderem ein langfristig höheres Wirtschaftswachstum in einem homogeneren bzw. regulatorisch weniger restriktiven Heimatmarkt, eine attraktivere demographische Situation und eine allgemein geringere Abhängigkeit von importierten Energieressourcen der USA.
Des Weiteren profitiert der amerikanische Aktienmarkt von einer stärkeren Nachfrage nach Aktien, die einerseits auf eine historisch ausgeprägtere Aktienkultur und zum anderen auf größere Aktienrückkaufprogramme von US-Unternehmen zurückzuführen ist. Das Größenverhältnis zwischen führenden ETFs, welche die jeweiligen regionalen Aktienindizes nachbilden, spricht ebenfalls eine deutliche Sprache. Während der SPDR S&P 500 ETF auf ein Fondsvolumen von stattlichen 532 Mrd. $ kommt, erreichen nur wenige ETFs mit europäischem Aktien-Fokus, wie beispielsweise der große Vanguard FTSE Europe mit 20 Mrd. $, den zweistelligen Milliardenbereich.
Unabhängig vom weiteren Verlauf der KI-Euphorie und der politischen Entwicklung in Europa gibt es aber deutliche Anzeichen dafür, dass zumindest auf Unternehmensebene einiges dafür getan wird, diese Bewertungslücke zu verkleinern. So hat beispielsweise die Aktivität bei Aktienrückkäufen in Europa in den vergangenen Jahren signifikant zugenommen und die sogenannte „Buyback Yield“ (Aktienrückkäufe/ Marktkapitalisierung) nahezu das Niveau der US-Märkte erreicht. Zudem suchen europäische Unternehmen mit hohem Umsatzanteil in den USA verstärkt den Weg zu einem Primary Listing in den USA, was im Falle einer Aufnahme in Indizes wie dem S&P 500 zu einer erheblich höheren Aktiennachfrage führen kann. Unternehmen wie Ferguson, Linde, Ferrovial, CRH und zuletzt auch Holcim konnten durch vergleichbare Maßnahmen den Bewertungsabschlag zu ihren amerikanischen Wettbewerbern verringern und somit ihre Eigenkapitalkosten spürbar reduzieren. Zukünftig könnten weitere deutsche und europäische Unternehmen diesem Beispiel folgen, beträgt der durchschnittliche US-Umsatzanteil von Titeln aus dem DAX 40 doch immerhin 30%.
Unter Branchengesichtspunkten sind die Bewertungsabschläge für europäische Aktien im Finanzsektor und bei Konsumgüterunternehmen besonders ausgeprägt. Im Hinblick auf die Finanzbranche mussten europäische Banken aus regulatorischen Gründen seit der Finanzkrise 2008 große Mengen Eigenkapital aufbauen und Bilanzrisiken verringern. Resultat waren sinkende Gewinne und geringere Ausschüttungsquoten. Seit etwa zwei Jahren jedoch sind die Ausschüttungsquoten stark angestiegen. Darüber hinaus werden Aktienrückkäufe von den europäischen Bankvorständen genutzt, um die niedrige Bewertung und die verbesserten Ertragsaussichten durch das höhere Zinsniveau zu nutzen.
In der Konsumgüterbranche ist der Bewertungsabschlag unter anderem im Tabakbereich eklatant, wo europäische Tabakunternehmen mit einem Abschlag von rund 20% zu ihren vergleichbaren amerikanischen Wettbewerbern handeln. Verantwortlich hierfür dürfte vor allem ein größerer ESG-Fokus von europäischen Investoren sein, welche Beteiligungen an Tabakunternehmen kategorisch ausschließen. Doch auch im Segment Haushaltswaren und Körperpflege ergibt sich für die meisten europäischen Branchenvertreter ein ähnliches Bild. Während sich die Produktportfolios zum Großteil überschneiden, handeln die meisten global agierenden europäischen Konsumgüterfirmen mit einem klaren Abschlag, welcher fundamental kaum nachvollziehbar scheint. Dementsprechend dürfte auch hier das nächste Primary Listing in den USA nur eine Frage der Zeit sein.
Was wir in Bezug auf die Bewertungsunterschiede zwischen hochkapitalisierten europäischen Large-Caps und ihren kleineren Small- und Mid-Caps erwarten, diskutieren wir in These 5: „Die Underperformance europäischer Small- und Mid-Caps endet“.
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